Impf­stoff-Krise: Das Versagen der EU-Kommission
Teil 2/2: Der dritte Fehler der EU-Kommission.
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3.) Die EU-Kommission hat darauf vertraut, dass die Pharmakonzerne es in Eigenregie hinbekommen.

Die EU-Kommission ist offenbar kalt davon erwischt worden, dass die Pharmakonzerne
nun reihenweise Schwierigkeiten bei der Produktion der Impfstoffe melden. Denn die "Strategie" der EU bestand vor allem darin, ihre Unterschrift unter Lieferverträge zu setzen, und dann abzuwarten. Sie hat darauf vertraut, dass bei den Konzernen alles reibungslos läuft, dass der Markt es schon regelt. Aber es läuft eben nicht.

Jetzt, wo es zu spät ist, tut die EU das, was sie schon im Sommer 2020 hätte tun soll: Sie wird aktiv, sie fragt bei den Konzernen nach, sie macht  Druck. So verspricht Ursula von der Leyen jetzt in einem Brief an die EU-Staaten, sie wolle "alle möglichen Maßnahmen [...] ergreifen, um den europäischen Bedarf zu decken". Sie will zusätzliches Geld bereitstellen für den Ausbau oder die Umwidmung von Werken, sogar für den Neubau. Außerdem will sie die Zusammenarbeit zwischen Herstellern fördern. Kurzum: Die Politik will die Konzerne nicht mehr einfach machen lassen, sondern eine Führungsrolle übernehmen.

Nur kommt das leider zu spät: Es dauert Monate, zusätzliche Kapazitäten für die Impfstoffproduktion zu schaffen. Europa braucht den Impfstoff jetzt. Genauer: Eigentlich hätte der Impfstoff vorproduziert werden müssen, damit sofort nach der Zulassung massenhaft mit Impfungen begonnen werden kann. Diese Strategie ist selbst dann sinnvoll, wenn am Ende nicht alle vorproduzierten Impfstoffe eine Zulassung erhalten: Der Nutzen der Impfung ist so groß, dass man die Kosten der Produktion vernachlässigen kann. Die EU hätte also lieber das Zehnfache ausgeben sollen als jetzt zu wenig Impfstoff zu haben. Auch 60 Euro statt 6 Euro pro Person sind immer noch ein Schnäppchen. Die richtige Strategie wäre also gewesen:  Bereits im Sommer 2020 massiv in den Aufbau der Produktion investieren, gleichzeitig die Hersteller eng überwachen und bei Proble­men nachsteuern.

Doch das ist nicht passiert. Die EU hat keine aktive Rolle übernommen, sondern den Konzernen vertraut. Sie hat so spät und nachlässig verhan­delt, dass sie jetzt nicht gegensteuern kann, sogar dann nicht, wenn der Lieferumfang deutlich gekürzt wird. Das zeigt sich am gerade veröffent­lichten Vertrag mit Astrazeneca und am Verhalten der beiden Vertragspartner. Der Konzern hat nicht einmal frühzeitig informiert, dass es Liefer­schwierig­keiten geben wird. Die Mitteilung, dass im ersten Quartal fast 50 Millionen Dosen weniger geliefert werden, wurde erst am 24. Januar 2021 veröffentlicht, als das Quartal schon begonnen hatte. Die Versuche der Kommission, noch Druck zu machen, wirken verzweifelt. Mehrmals hat sie Gespräche eingefordert, die von Astrazeneca dann ergebnislos abgebrochen wurden. Das Handelsblatt bemerkt süffisant: "Gesundheitskommissarin Kyriakides sprach beim letzten Treffen von einem 'konstruktiven' Ton der Gespräche. Resultate bleiben weiter aus."

Die Politik in Europa und Deutschland lässt sich immer noch vom Glauben leiten, dass profitorientierte Konzerne normalerweise im Interesse der Allgemeinheit handeln. Die Aussicht auf Gewinne, so die Theorie, treibt Unternehmen dazu an, die besten Produkte in kürzestmöglicher Zeit zu entwickeln. Kurz: Der Markt regelt es schon. Doch gerade bei der Pharmaindustrie zeigt sich, dass der Markt es nicht allein regelt, auch bei den Coronavirus-Impfstoffen.

Beispiel Astrazeneca-Impfstoff: In den Medien wird meist der Name des Pharmakonzerns genannt, doch eigentlich ist es der Impfstoff der Universität Oxford. Jahrelang hat das Team der Universität die Grundlagen für diesen Impfstoff gelegt, gefördert mit staatlichen Geldern, auch von der EU. Die Forschung war so weit vorangeschritten, dass das Team nur ein Wochenende brauchte, um den Bauplan für den Impfstoff zu erstellen: Am Freitag, den 10. Januar 2020 hatten chinesische Forschende das Genom des Coronavirus veröffentlicht. Nur wenige Stunden später begann das Team in Oxford damit, den Impfstoff zu entwerfen, und am Sonntag stand der Bauplan weitgehend. Doch die Mitarbeitenden der Universität hatten Schwierigkeiten, eine Finanzierung für den Impfstoff zu finden. Professor Andrew Pollard von der Universität Oxford schildert der BBC: "Der Anfang war ziemlich schmerzlich. Es gab eine Zeit, in der wir überhaupt kein Geld mehr auf der Bank hatten. [...] Geld zu beschaffen war bis April 2020 meine Haupt-Tätigkeit, also Menschen zu überzeugen, es jetzt zu finanzieren." Erst Ende April 2020 wurde der Vertrag zwischen der Uni Oxford und Astrazeneca unterzeichnet.

Hier zeigt sich ein Dilemma der Pharmabranche: Medikamenten-Forschung wird oft mit staatlichen Geldern gefördert, doch am Ende sind es die Pharmakonzerne, die ein Mittel vermarkten und damit Profit erzielen. In einer spannenden und lesenswerten Analyse in der New York Times zeigt Wissenschaftsjournalist Stephen Buranyi auf, wie Pharmakonzerne mit den Coronavirus-Impfstoffen Gewinne machen, gleichzeitig aber von staatlichen Hilfsgeldern in Milliardenhöhe profitieren.

In vielen Presseberichten heißt es, dass Astrazeneca sich gegenüber der Universität Oxford verpflichtet hat, mit dem Impfstoff keine Gewinne zu machen. Doch offenbar sieht es im Kleingedruckten ganz anders aus: Nach Recherchen der Financial Times erlaubt der Deal es Astrazeneca, bis zu 20 Prozent Aufschlag auf die Herstellungskosten zu verlangen. Zudem gilt der Deal nur bis zum Ende der Pandemie, danach kann Astrazeneca höhere Preise verlangen. Die Financial Times hat enthüllt, dass Astrazeneca sich mindestens in einem Fall das Recht vorbehalten hat, schon im Juli 2021 zu erklären, dass die Pandemie beendet sei. Das ergibt sich laut FT aus einem "Memorandum of Understanding" zwischen Astrazeneca und einem brasilianischen Hersteller. Zudem weigert sich der Astrazeneca-Chef offenbar, mitzuteilen, zu welchem Preis er den Impfstoff nach dem Ende der Pandemie verkaufen will.

Andere Konzerne verlangen bereits jetzt viel höhere Preise für ihre Corona-Impfstoffe als Astrazeneca. Doch der Preis ist nicht das eigentliche Problem: Entscheidend ist, dass die Hersteller sich zu wenig anstrengen, die Corona-Impfungen weltweit schnell zur Verfügung zu stellen. Sie haben schlicht die falschen finanziellen Anreize, denn hohe Investitionen in Impfstoff-Fabriken schmälern ihre Profite.

Gerade in einer Pandemie klaffen die Interessen der Öffentlichkeit und der Konzerne weit auseinander: Es wäre im öffentlichen Interesse, jetzt auf dem ganzen Globus die Impfstoff-Produktion hochzufahren, damit in wenigen Monaten die gesamte Weltbevölkerung geimpft wird. Damit könnte auch die Entstehung von weiteren Mutanten eingedämmt werden. Doch die Hersteller der Impfstoffe haben ganz andere Interessen: Für sie ist es nicht profitabel, jetzt massiv Impfstoff-Fabriken aufzubauen, die in ein paar Monaten stillstehen. Am profitabelsten sind für die Hersteller wenige Fabriken, die auf lange Zeit gut ausgelastet sind, indem man erst die reicheren Länder versorgt und dann die ärmeren.

Das führt dazu, dass viele ärmere Länder bis Ende 2021 nur 20 Prozent ihrer Bevölkerung impfen können. Wissenschaftsjournalist Buranyi fasst zusammen: "Da die Firmen die Herstellung kontrollieren, werden sie die Impfstoffe nach dem Fahrplan ausliefern, der ihnen genehm ist. Dabei benutzen sie ihre eigenen Fabriken oder Lizenznehmer, während andere Impfstoffwerke auf der Welt stillstehen." Der Journalist fordert, dass die Firmen ihre Patente freigeben, damit alle Hersteller weltweit so viel Impfstoff produzieren können, wie nur irgend möglich.

Genau so argumentiert auch Zoltán Kis, der am Imperial College in London neue Methoden zur Herstellung von Impfstoffen erforscht. Wenn man das Know-How offenlegen würde, so dass viele Hersteller es nutzen könnten, würde man "sicherlich viel mehr Impfstoffe produzieren. Und das wäre eine gute Sache für die Überwindung der Pandemie" sagt Kis dem NDR.

Viele weitere Forschende und Organisationen kritisieren die Pharma­unternehmen. Beispielsweise wirft Ärzte ohne Grenzen den Konzernen vor, dass sie selbst mitten in der globalen Pandemie weiter "business as usual" betreiben und an der Profitmaximierung festhalten. Ärzte ohne Grenzen kritisiert, die Pharmaindustrie behaupte fälsch­licher­weise, dass erst geistige Eigentums­rechte den Durchbruch für Coronavirus-Impf­stoffe gebracht hätten. Tatsächlich werde die Forschung zum Coronavirus vor allem von Steuern und Stiftungsgeldern vorangetrieben.

Fazit: Die rechtzeitige Beschaffung der Corona-Impfstoffe ist eine der wichtigsten Aufgaben dieses Jahrzehnts. Bundesregierung und EU-Kommission haben dabei versagt. Die Impfungen in Europa sind um Monate verzögert. Es ist ein Versagen von großer Tragweite. Es basiert auf einem Grundfehler der Politik: Einem übergroßen Vertrauen in die Großkonzerne. Profitorientierte Unternehmen haben oft ganz andere Interessen als die Allgemeinheit. Sie brauchen klare Regeln und strenge Kontrolle, damit sie im Interesse der Gesellschaft handeln.

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