Impf­stoff-Krise: Das Versagen der EU-Kommission
In der gesamten EU mangelt es an Corona-Impfstoff. Verant­wortlich: Die Kommission. Sie hat drei schwer­wieg­ende Fehler gemacht. Eine Analyse.
Aktualisiert 24.02.2021, 10:27 Uhr

Die EU versagt bei den Corona-Impfungen: Bisher sind in Europa erst 6 Impfdosen pro 100 Personen verabreicht worden. Zum Vergleich: In Israel sind es 87 Dosen pro 100 Personen, in Großbritannien 27, in den USA 20.

Noch erschreckender: Es gibt keine Anzeichen, dass die EU aufholt. Pro Woche verabreicht Großbritannien pro 100 Personen gerade 4 Impfdosen, die USA 3, Deutschland dagegen nur 1 . Biontech hat laut Deutscher Presse-Agentur versprochen, die Lieferungen an die EU "möglicherweise" aufzustocken, doch das ändert nichts am aktuellen Notstand: Die zusätzlichen Mengen werden erst in einigen Monaten verfügbar sein. Zudem sind sie nicht fest zugesagt.

Europa hat so wenig Impfstoff, dass ganze Regionen die Erst-Impfungen zeitweilig einstellen mussten: Drei Wochen lang gab es in Rheinland-Pfalz keine Erstimpfungen, und mindestens zwei Wochen lang keine in Madrid. Niedersachsen hat tagelang überhaupt keine Impftermine mehr angeboten, weder für Erst- noch für Zweitimpfungen. Zuvor hatten dort sowieso nur 18 der 50 Impfzentren Termine angeboten.

In diese Misere sind noch die Meldungen geplatzt, dass der Pharma­konzern Astrazeneca im ersten Quartal 2021 weniger als die Hälfte der versprochenen Impfdosen liefern wird, und laut Insiderberichten im zweiten Quartal ebenfalls. Der Guardian kommentiert: "Die 27-EU-Staaten waren von der Ankündigung am Boden zerstört [...] Der Ärger der Verantwortlichen wurde noch dadurch verstärkt, dass der Konzern versicherte, man werde Großbritannien weiterhin pünktlich beliefern. Dort würden die bestellten zwei Millionen Dosen pro Tag zuverlässig ankommen." Astrazeneca hatte der EU zwar versprochen, die Liefermenge im ersten Quartal doch wieder etwas zu erhöhen, aber unter dem Strich bleibt eine drastische Kürzung: Der Konzern liefert weiterhin nur die Hälfte der eigentlich zugesagten Menge. Nur 40 Millionen Impfdosen statt 80. Nach Angaben des ZDF und des Guardian hatte Astrazeneca der EU im ersten Quartal ursprünglich sogar bis zu 100 Million Impfdosen zugesagt.

Der Impfstoff-Mangel in der EU hat gravierende Auswirkungen: Mehr schwere Corona-Erkrankungen, mehr Todesfälle. Durch zügige Impfungen könnten viele tödliche Ausbrüche verhindert werden, beispielsweise in Pflegeheimen.

Verantwortlich für die Notlage ist die Euro­päische Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen. Die Kommission ist zuständig für die Beschaffung der Impfstoffe, und sie hat dabei drei schwerwiegende Fehler gemacht: Sie war erstens viel zu sparsam. Sie hat zweitens wertvolle Zeit vergeudet. Und sie hat drittens darauf vertraut, dass die Pharmakonzerne es in Eigenregie hinbekommen.


1.) Die EU-Kommission war zu sparsam

Wie viel Wert hat eigentlich eine Corona-Impfung für unsere Gesellschaft? Einerseits gibt es einen idellen Wert. Der ist unermeßlich, weil die Impfung in vielen Fällen Tod oder schweres Leiden verhindert. Andererseits hat die Impfung einen wirtschaftlichen Wert. Der lässt sich ganz nüchtern schätzen: Studien kommen zu dem Ergebnis, dass jede frühzeitig gelieferte Corona-Impfung einen volkswirtschaftlichen Nutzen von 1.500 Euro hat. Sie verhindert in vielen Fällen, dass jemand wochenlang krankgeschrieben ist oder sogar auf der Intensivstation behandelt werden muss. Und sobald zwei Drittel der Menschen geimpft sind, sorgen die Impfungen dafür, dass der Lockdown beendet werden kann. Allein in Deutschland kostet eine Woche Lockdown 3,5 Milliarden Euro, schätzt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

Der Nutzen der Impfungen ist also immens. Wie viel Geld hat die EU-Kommission investiert, um die rechtzeitige Produktion von Corona-Impfstoffen zu ermöglichen? Es waren nur 2,7 Milliarden Euro für ganz Europa. Pro EU-Einwohner*in sind das gerade mal 6 Euro. Obwohl eben jede Impfung einen geschätzten Wert von 1.500 Euro hat. Im September 2020 hat die EU zumindest noch etwas nachgelegt, mit rund einer Milliarde zusätzlich. Aber selbst damit ist die Gesamtsumme nur so hoch wie die wirtschaftlichen Verluste, die allein Deutschland
jede Woche im Lockdown erleidet.

Zum Vergleich: Sogar US-Präsident Donald Trump, der die Corona-Gefahr in unverantwortlicher Weise heruntergespielt hat, hat ein Vielfaches in die Bekämpfung der Epidemie investiert: Mit der "Operation Warp Speed" hat die US-Regierung insgesamt 18 Milliarden US-Dollar für den Kampf gegen das Coronavirus bereitgestellt, davon 11 Milliarden für Kaufverträge mit Herstellerfirmen. Das sind umgerechnet 27 Euro pro Person, im Vergleich zu 6 Euro in der EU.


2.) Die EU-Kommission hat wertvolle Zeit vergeudet

Glaubt man EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, hat sie alles richtig gemacht: Sie spricht im Interview von mehr als 2 Milliarden Impfdosen, "die im Laufe der Zeit jetzt langsam aber sicher kommen werden. Sie sehen, die Grundlage stimmt."

Nur ist eben die entscheidende Frage, ob die Impfdosen
jetzt eintreffen oder erst in vielen Monaten. Europa ächzt unter dem Lockdown, und gleichzeitig gibt es täglich um die dreitausend Corona-Todesfälle, und zwar durchgehend seit Ende November. Es zählt also jeder Tag und jede Impfung. Doch in ganz Deutschland werden gerade pro Tag nur 130.000 Corona-Impfungen verabreicht. Zum Vergleich: Im Vereinigten Königreich sind es täglich rund 350.000, obwohl dort weniger Menschen leben als in Deutschland. Deutschland und die EU fallen also immer weiter zurück.

Der Grund: Inzwischen haben schon drei Hersteller angekündigt, dass sie der EU aktuell weniger liefern als versprochen. Neben Astrazeneca sind es Moderna und die Allianz aus Biontech und Pfizer. Der Astrazeneca-Chef Pascal Soriot macht im Interview klar, wer verantwortlich ist: Die EU-Kommission. Seine Argumente sind stichhaltig: "Fakt ist, dass das Vereinigte Königreich den Vertrag mit uns drei Monate früher unterzeichnet hat als Europa." Im Klartext: Die EU-Kommission war zu spät dran. Soriot erläutert ausführlich, dass für Astrazeneca diese drei Monate entscheidend waren, weil der Aufbau der Produktion aufwendig und fehleranfällig ist. Auch in Großbritannien gab es dabei technische Probleme, nur habe man dort eben drei Monate mehr Zeit gehabt, sie zu überwinden.

Weil die EU-Kommission zu spät kam, sagt Soriot, habe man keine festen Lieferzusagen mehr geben können. Der Vertragstext stützt seine Darstellung: Dort ist lediglich festgelegt, dass Astrazeneca "nach bestem Bemühen" die versprochenen Mengen liefern solle, oder im Original: "AstraZeneca shall use its Best Reasonable Efforts". In dieser Analyse hat Freiblatt herausgearbeitet, warum der kürzlich bekannt gewordene britische Vertragstext die EU-Kommission nicht entlastet.

Ursula von der Leyen redet sich im Interview mit dem Deutschlandfunk heraus: Sie behauptet, die Klausel "Best Efforts" habe nur während der Entwicklung des Impfstoffs gegolten. Jetzt, nach der Zulassung, habe Astrazeneca feste Lieferverpflichtungen. Das Interview hat von der Leyen geführt, als der Vertragstext weiterhin unter Verschluss war. Auf öffentlichen Druck hat die EU ihn jetzt freigegeben, einige Passagen allerdings geschwärzt. Der freigegebene Text widerlegt die Darstellung der EU-Kommission: Dort bezieht sich die Klausel "Best Efforts" eindeutig auf Herstellung und Auslieferung des Impfstoffs. Dagegen wird die Entwicklung des Impfstoffes in den entsprechenden Absätzen nicht einmal erwähnt. Stattdessen heißt es schlicht: "AstraZeneca shall use its Best Reasonable Efforts to manufacture the Initial Europe Doses".

Die Aussage von Ursula von der Leyen ist offenbar nur ein geschickter Versuch, vom eigenen Versagen abzulenken: Wenn der Vertrag der EU wirklich so wasserdicht wäre wie der des Vereinigten Königreichs, warum sollte Astrazeneca die EU warten lassen, während man das Vereinigte Königreich pünktlich beliefert? Auffällig ist auch, dass die EU-Kommission Astrazeneca lediglich verbal attackiert, aber offensichtlich nichts in der Hand hat: Von Seiten der EU war nie zu hören, dass der Vertrag bei Nichtlieferung Strafzahlungen vorsieht, oder irgendeine andere wirksame Sanktion. Gustav Oertzen, Dozent an der Leuphana Universität Germany, kommentiert: "Ich habe keine Idee, was Ursula von der Leyen mit 'kristallklaren Lieferverpflichtungen' meint. In den freigegeben Teilen des Vertrags gibt es keine klaren Verpflichtungen, keine erkennbaren Sanktionen."

Ursula von der Leyen lenkt im Interview noch auf andere Weise ab: "Der Unterschied zu Großbritannien ist – und das ist ein wichtiger Punkt: Groß­britannien hat eine Notfall­zulassung gemacht innerhalb von 24 Stunden. Wir finden ganz wichtig bei diesen Impfstoffen, dass es keine Abkürzung bei der Sicherheit geben darf." Wird die EU also deshalb so spät beliefert, weil sie so gründlich prüft? Nein. Erstens hat Groß­britan­nien die Zulassung nicht innerhalb von einem Tag erteilt. Genau wie in der EU lagen zwischen Antragstellung und Zulassung  mehrere Tage. Zwei­tens war die frühere Zulassung in Großbritannien überhaupt nicht ent­scheid­end. Die Produktions­kapazitäten für den Impfstoff mussten über Monate aufgebaut werden, also lange vor der Zulassung. Der Astra­zeneca-Impfstoff wurde in Großbritannien erst Ende Dezember 2020 zugelassen. Der Liefer­vertrag wurde aber bereits im Mai 2020 unter­schrieben. Dadurch hatte Astrazeneca frühzeitig grünes Licht zum Aufbau der Produktions­kapazitäten.

Auch die USA hatten schon im Mai 2020 Lieferverträge mit Astrazeneca abgeschlossen, während Ursula von der Leyen noch Ende Juli 2020 nur vage andeuten konnte, man sei in "fortgeschrittenen Gesprächen mit mehreren [...] Firmen". Es gab also noch keinen Vertrag, stattdessen große Worte wie "Eckpfeiler", "Impfstoffstrategie" und "Portfolio von Impfstoffen". Den Vertrag mit Astrazeneca hat die EU erst im August 2020 geschlossen.

Auch bei anderen Herstellern ließ die EU-Kommision wertvolle Zeit verstreichen, beispielsweise bei Biontech/Pfizer und Moderna. Die USA und Großbritannien haben ihre Lieferverträge oft viele Monate früher geschlossen als die EU. Dadurch haben die Hersteller wertvolle Zeit gewonnen, um die Produktion aufzubauen und auftauchende Probleme zu lösen.

Wenn sogar Boris Johnson und Donald Trump umsichtiger geplant haben als die EU, ist offensichtlich, dass Brüssel etwas falsch gemacht hat. Beide sind wirklich kein leuchtendes Vorbild in vorausschauender Politik, und auch Boris Johnson wird dafür kritisiert, dass er wenig getan hat, um Impfstoff-Produktionskapazitäten für den Fall einer Epidemie bereitzuhalten.

Die Langsamkeit der EU hat auch Angela Merkel zu verantworten. Statt klarer Linie gab es bei der Bundesregierung im Sommer 2020 einen Zickzack-Kurs: Zunächst wollte man die EU außen vor lassen. Deutschland hatte gemeinsam mit den Niederlanden, Frankreich und Italien im Juni 2020 einen ersten Liefervertrag mit Astrazeneca abgeschlossen. Doch zwei Monate später die Kehrtwende: Deutschland darf keine eigenen Verträge mehr abschließen, der bestehende Vertrag mit Astrazeneca wird von der Kommission neu verhandelt. Deutschland und die EU haben also den Sommer damit verbracht, herauszufinden, wer überhaupt für die Beschaffung der Impfstoffe zuständig ist, statt den Aufbau der Produktionskapazitäten voranzutreiben.

In einem Hintergrund­bericht beschreibt der Wirtschafts-Nach­richten­dienst Bloomberg die Geschehnisse hinter den Kulissen der EU und der Bundesregierung, basierend auf Informationen von Insidern. Der Bericht kommt zu dem Schluss: "Auf dem Versagen bei der Corona-Impfung finden sich überall die Fingerabdrücke von Angela Merkel."
Lesen Sie im zweiten Teil des Artikels: Der dritte schwerwiegende Fehler der EU-Kommis­sion.

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